Die Brennessel - wehrhafte, edle, weiche Kaiserin der Heilpflanzen
- Robin Hoyer

- 10. Aug.
- 7 Min. Lesezeit

Wenig beachtet wächst sie fast überall auf dieser Welt. Sie wuchert in Gärten, auf Bauernhöfen, in der Stadt wie auf dem Land. Verachtet, ausgerissen, weggeworfen, wegen ihrer Bissigkeit gefürchtet – dabei ist sie die Kaiserin unter den Heilpflanzen. Über sie allein ließe sich ein ganzes Buch schreiben.
In unseren Märchen taucht sie selten auf. Zu stachelig, zu gewöhnlich, zu wenig anmutig für höfische Fantasien. Doch wer genauer hinsieht, entdeckt: Sie hat sich ihren Platz genommen.
Die Brennessel in Märchen und Sagen (einfach aufklappen):
🇩🇰 Dänemark – Die Hemden aus Schmerz
Originaltitel: De vilde svaner
Autor: Hans Christian Andersen, 1838
Die junge Elisa wächst mit ihren elf Brüdern in einem Königreich auf, das bald durch eine böse Stiefmutter ins Unglück gestürzt wird. Die Brüder werden in Schwäne verwandelt, Elisa selbst verstoßen. Ein Engel erscheint ihr im Traum und offenbart den einzigen Weg zur Erlösung: Sie muss aus Brennnesseln elf Hemden weben – und währenddessen kein einziges Wort sprechen, sonst sind ihre Brüder verloren.
Elisa beginnt, auf Friedhöfen und in vergessenen Winkeln Brennnesseln zu sammeln. Ihre Finger sind bald wund, ihr Schweigen wird zur Waffe gegen das Unverständnis der Welt. Als sie auf dem Scheiterhaufen endet, wirft sie im letzten Moment die Hemden über ihre Brüder – der Zauber bricht. Nur einer behält einen Schwanenflügel.
Die Brennnessel ist hier Werkzeug der Liebe, schmerzhafte Verbindung zwischen Opfer und Erlösung. Eine Pflanze, die brennt – aber auch erlöst.
🇮🇪 Irland – Wächterin der Nebelpfade
Überlieferung: Irische Volksmagie, mündlich überliefert
In den nebligen Mooren Irlands flüstern Geschichten, dass dort, wo die Feen die Grenze zur Menschenwelt durchbrechen, Brennnesseln wachsen. Besonders in der Nähe alter Steinkreise, Hügelgräber oder Quellen neigten sich die Pflanzen manchmal ohne Wind – ein Zeichen, dass die "Sídhe", das Feenvolk, nahe ist.
Mütter steckten ihren Kindern ein Nesselblatt in den Kragen, wenn sie in der Dämmerung das Haus verließen. Es hieß, wer eine Brennnessel bei sich trägt, sei für die Feen unsichtbar. Die Pflanze galt nicht nur als Schutz, sondern auch als Warnung – wer sie übersah, war oft selbst bald verschwunden.
Die Brennnessel erscheint hier als Schwellenwächterin zwischen Diesseits und Anderswelt – eine Pflanze mit Bewusstsein für das Unsichtbare.
🇷🇸 Serbien – Die Wahrheit auf der Zunge
Überlieferung: Südslawisches Volksmärchen (mündlich überliefert)
Eine alte Frau lebt allein am Rand eines Dorfes und ist bekannt für ihre seltsamen Gewohnheiten: jeden Morgen trinkt sie ihren bitteren Brennnesseltee, den sie aus frischen, selbst gesammelten Pflanzen aufgießt. Die Kinder spotten, die Nachbarn tuscheln – bis ein Dieb ins Dorf kommt, freundlich lächelnd, aber mit dunklen Absichten.
Er versucht, die Alte zu täuschen.
Doch sie blickt ihm ruhig in die Augen und spricht: „Meine Zunge brennt vom Tee – doch dein Herz brennt von Lügen.“ Ihre Worte treffen ihn tiefer als jedes Gericht. Er bekennt seine Schuld – überwältigt nicht von Beweisen, sondern von ihrer Klarheit.
Die Brennnessel ist hier Symbol für geistige Schärfe, Wahrheitskraft und die Fähigkeit, durch Bitterkeit zur Erkenntnis zu gelangen.
🇩🇪 Norddeutschland – Das Dach der weisen Frauen
Überlieferung: Norddeutsche Volksüberlieferung (Sagenkreis Rügen, Friesland, Lüneburg)
Man sagt, dass Häuser, auf deren Strohdächern Brennnesseln wuchern, nicht gewöhnlich sind. Dort wohnt eine, die die Sprache der Pflanzen kennt. Eine weise Frau, eine Heilerin – oder eine Hexe, je nachdem, wen man fragt.
Die Pflanze auf dem Dach wird dabei nicht als Unkraut gesehen, sondern als Zeichen: Wo sie wächst, wird das alte Wissen noch gelebt. In manchen Geschichten steigen bei Sturmwetter grüne Flammen vom Dach – aber das Haus steht fest, geschützt von dem, was andere nicht verstehen.
Die Brennnessel markiert hier Orte der weiblichen Kraft, des alten Wissens und der unsichtbaren Verbindung zur Natur.
🇷🇺 Russland - Das Bett im Schutzkreis
Überlieferung: Russisches Volksmärchen (Sibirischer Raum, Altgläubige)
Ein junges Mädchen lebt mit ihrer kranken Großmutter in einer Hütte am Waldrand. Nacht für Nacht nähert sich ein dunkler Schatten – lautlos, aber spürbar. Die Großmutter rät ihr, einen Ring aus frischen Brennnesseln ums Bett zu legen, und tatsächlich: In der nächsten Nacht bleibt der Schatten am Rand stehen, kreist um das Feuergrün, kommt nicht näher.
Der Kreis aus Nesseln wirkt wie eine lebendige Mauer, feurig und flüsternd. Als der Sommer vergeht, verschwindet der Schatten ganz. Niemand weiß, ob es ein Waldgeist war – oder etwas Älteres.
Die Brennnessel ist hier nicht nur Schutzpflanze, sondern aktiver Bestandteil magischer Abwehr – eine Grenze aus Leben gegen das Dunkel.
🇱🇹 Litauen – Die Hände aus Feuer
Überlieferung: Litauische Sage, regional überliefert (Aukštaitija)
Ein junges Mädchen träumt von ihrer verstorbenen Mutter. Diese zeigt ihr ein Gewand aus grünen Fasern und sagt: „Nur, wer aus Schmerz webt, kann uns befreien.“ Als das Mädchen erwacht, beginnt sie, Brennnesseln zu sammeln – mit bloßen Händen.
Sie webt ein Umhangstück, in das sie ihre Tränen, ihr Blut und ihre Liebe einarbeitet. Als sie es ihrem stummen Bruder überreicht, beginnt er zu sprechen – der alte Fluch ist gebrochen. Ihre Hände jedoch bleiben für immer gezeichnet.
Die Brennnessel steht hier für Opferbereitschaft, Transformation und die heilende Macht des Schmerzes.
🇺🇸 Nordamerika – Die Nessel der Reinigung
Überlieferung: Indigene Traditionen der Salish, Yurok und Blackfoot (mündlich)
Bei vielen indigenen Völkern Nordamerikas gilt die Brennnessel als Pflanze der spirituellen Reinigung und Kraft. Vor Vision Quests oder Übergangsritualen rieben sich junge Männer mit frischen Brennnesseln ein – ein Ritus, der den Körper sensibilisierte, Schmerzen bewusst machte und alte Energien austrieb.
Die Pflanze wurde auch in Schwitzhütten verbrannt oder als Tee getrunken, um „den Körper zu leeren, damit die Geister hineinkönnen“. Sie war keine milde Helferin, sondern eine Feuerlehrerin.
Die Brennnessel erscheint hier als Initiationspflanze – sie bringt Klarheit, Demut, Verbindung zur geistigen Welt.
In all diesen Geschichten ist die Brennessel nicht nur eine Pflanze - sie ist ein Charakter, der Prüfungen stellt, schützt, wandelt und heilt.
Von alten Namen und wilden Wurzeln
Wer hat die Brennnessel noch nicht kennengelernt? Als Kind mit kurzen Hosen durch Wald und Feld – das Geschrei ist sicher vielen vertraut. Mein Großvater, ein Naturmensch durch und durch, zeigte mir, wie man sie streichelt, ohne sich weh zu tun, und wie weich sie eigentlich ist. Er erzählte mir, dass Kriegsgefangene durch sie überlebten – von der Wurzel bis zum Samen.
Die Brennnessel hat viele Namen, z.B.: Haarnessel, Donnernessel, Netzel, Saubrenner, Wehrnessel. Ihr Name stammt vermutlich vom althochdeutschen „nezzen“ (brennen), wie auch das lateinische urtica („urere“ = brennen).
Im Volksglauben wächst sie dort, wo ein Streit noch nicht beendet ist – und wo sie wächst, ist der Boden nicht tot. In manchen Gegenden ließ man Kinder absichtlich in die Nesseln fallen – zur „Abhärtung“. Ihre Wurzeln wurden zur Stärkung von Niere, Prostata und Haar eingesetzt.
Nicht alle Teile sind gleich
Die Brennessel ist ein Multitalent - doch jeder Teil hat seine eigene Wirkung:
Die Blätter

Reich an Vitamin A, C und K, sowie an Eisen, Kalzium, Magnesium, Kieselsäure, Chlorophyll, Cumarinen, und Flavonoiden wirken sie nicht nur harntreibend, sondern auch blutbildend, immunstärkend und stoffwechselanregend. Sehr gut z.B. im Fellwechsel.
Vorsicht: bitte bei Katzen nur äußerst vorsichtig anwenden und nach Rücksprache mit einer Fachperson. Bei starker Nierenschwäche, Blasen- oder Nierensteinen nicht empfohlen. Entwässerung kann zur Überforderung der Niere führen. Außerdem kann die Brennessel Steine lösen - aber das kann höllische Schmerzen verursachen und zu schweren Koliken führen.
Die Samen


Stärkend für Nieren-Yang und Nebennieren. Die getrockneten Samen enthalten sehr viel Protein - zum Vergleich: 100 g gekochte Kichererbsen enthalten ca. 9 g Protein; Brennesselsamen kommen auf 25 g und haben zusätzlich noch hohe Anteile an Eisen, Magnesium und Omega-3-Fettsäuren. Letztere allerdings weniger als z.B. im Leinsamen enthalten sind. Sie schlagen allerdings mit mehr Kalorien zu Buche (120 kcal zu 400 kcal). Das ist nicht nur für die Sportler interessant, die das hier lesen, sondern auch für unsere Tiere: Die Samen sind nämlich dadurch fantastisch zum Aufbau bei Schwächezuständen geeignet. Beispiele: Erschöpfung nach schweren Erkrankungen, Altersdemenz, hormonellen Schwächen.
Katzen meiden sie - aber für unsere anderen Haustiere sind sie eine Wohltat. Ich selber ernte sie demnächst, dann werden sie getrocknet und versorgen mich im Winter mit Vitaminen und Nährstoffen.
Die Wurzel
Bewährtes Mittel bei Prostata-Problemen, Reizblase, hormonell bedingtem Haarausfall und Vitamin- und Nährstoffmangel durch chronische Entzündungen oder hormonelle Veränderungen. Sie wird bei Mensch und Tier noch viel zu wenig genutzt, aber so langsam erforscht.
Der Stängel
Medizinisch kaum bedeutsam - aber als Textilfaser äußerst wertvoll. Reißfest, weich, atmungsaktiv, antibackteriell und weich. Ein vergessener Rohstoff mit Zukunft. Sogar in der Bronzezeit wurden daraus schon Kleider hergestellt.
Traditionelle Weisheit - Unterstützung für Körper und Geist
Die Brennessel wurde nie gefeiert, aber immer verwendet. In unserer westlichen Kräutermedizin, wie oben schon Erwähnt bei: Rheuma, Arthritis, Blasenproblemen, Prostataleiden, bei Frühjahrskuren zur Blutreinigung, bei Appetitlosigkeit, für den Stoffwechsel, die Unterstützung des Immunsystems und für die Hautpflege.

In der TCM
Der Geschmack ist scharf und bitter
Die Thermik ist kühl bis neutral (reife Samen werden manchmal als warm betrachtet)
Sie wirkt auf die Organe Leber, Niere, Blase und das Blut
Ihre funktion ist: Ausleiten von Wind-Hitze, Blut bewegen, Yin stärken, Toxisches klären
Oder übersetzt: Man kann sie (mit) einsetzen bei: Sommerekzem, juckenden Ausschlägen, müden und energielosen Zuständen, bei trockener Haut, zur Unterstützung des Fellwechsels, regt sanft an ohne abführend zu wirken, hilft überschüssige Flüssigkeit aus dem Körper zu bringen z.B. bei Ödemen, oder "Schleim in den Gelenken" (Arthritis / Arthrose). Auch bei Hunden, die z.B. dezent Harninkontinent sind, aber kein Nierenleiden haben, kann sie das "Tröpfeln" abstellen.
Vorsicht, Verwechslungsgefahr
Eine Verwechslung ist eigentlich ausgeschlossen - schließlich ist der Schmerz unverwechselbar. Allerdings bildet die Brennessel an dauerhaft schattigen Plätzen oder in späten Wachstumsphasen weniger Stacheln aus. Dann kann man sie eben doch verwechseln. Zum Beispiel:
Mit der Taubnessel
Ähnlich, aber weich, völlig harmlos - medizinisch eine gänzlich andere Kiste. Die Blätter sind der Brennessel zum verwechseln ähnlich - aber sie haben keine Haare. Eigentlich sind das auch gar keine Nesseln. Sie gehören zu den Lippenblütlern und haben weiße, rosane, purpune oder gelbe Blüten. Sie sind auch Heilpflanzen, aber heute nicht unser Thema.
Den Wolfsmilchgewächsen
Gefährlich, da der weiße Milchsaft innerlich giftig ist. Ich möchte hier aber keine Pflanzen verteufeln, denn irgendwas können sie eigentlich alle. So werden Wolfsmilch-Pflanzen immer mehr erforscht, weil sie äußerlich womöglich gegen Warzen helfen. Eine Verwechslung ist auch eigentlich nur möglich wenn die Pflanze sehr jung ist. Ich habe kein Bild gefunden, dass gepasst hätte Euch diesen Unterschied zu zeigen. Wenn jemand eines findet, dass ich verwenden darf: Kontaktiert mich gerne.
Zu viele Brennesseln?
Ihr habt zu viel Brennessel auf eurer Wiese oder im Garten? Nutzt sie! Und wenn ihr nur Brennessel-Jauche daraus macht und euren Garten mit Stickstoff, Kalium und Silizium versorgt. Das stinkt zwar sehr, aber ist mindestens genauso effektiv. Verdünnt ihr die Jauche und macht sie in eine Sprühflasche, dann wirkt sie gegen Blattläuse, Mehltau usw.
Fazit
Die Brennessel kann viel - vielleicht mehr, als uns bewusst ist. Vielleicht ist sie gerade deshalb die Kaiserin der Heilkräuter - weil sie uns zeigt, dass Wertvolles oft im Gewand des Unscheinbaren wächst.

Gerade deshalb sollten wir, auch wenn sie in Massen vorkommt, achtsam mit ihr umgehen. Wie bei allen Pflanzen gilt: nur ernten, was man braucht, niemals alles. Was heute unsere Teetasse oder unseren Teller füllt, den Fellwechsel unseres Hundes / Pferdes stärkt, ist morgen Lebensraum, Nahrungsquelle und Schutz für Insekten und Vögel.
Was so in Pflanzen an Wirkstoffen sein kann? Hier gehts zum Blog-Artikel:
Quellen:
Wolfgang Schröder, "Die Meisterkräutertherapie"
Cäcilia Brendieck-Worm, Matthias F. Melzig, "Phytotherapie in der Tiermedizin"
Rita Travesier, "Westliche Pflanzen und ihre Wirkungen in der TCM"
Dr. med. vet. Dorina Kossegi-Lux, "Grüne Hausapotheke für Hunde"
Hugo Hertwig, "Knaurs Pflanzenbuch" (1954)
... und natürlich mein Großvater, Opa Rudolf





